Kostenlose Geschichten: Welcome to New York

Warum Jenny mich verlassen hat? Eigentlich wollten wir nur feiern …

Es war spät und der Bass dröhnte aus den Lautsprechern. Ich stand also betrunken auf der Tanzfläche und hatte dieses geistreiche Gespräch mit irgendeiner Brünetten. Noch in dieser Nacht, der Nacht vor unserem Flug, machte Jenny mir eine riesen Szene und warf schreiend meine alten Sachen aus dem Fenster der Dachgeschosswohnung. Mein Yamaha-Verstärker zertrümmerte die Windschutzscheibe einer Yamaha R1, was bei genauer Betrachtung ein echt witziger Zufall ist … Sie behielt das gesparte Geld und ich die Flugtickets nach New York. Sie hat die Sicherheit und ich habe unseren Traum.

 

Es ist mitten in der Nacht und ich nehme die U-Bahn vom Flughafen Richtung Downtown. Der Waggon ist fast leer und rollt unruhig über die Schienen. Neben mir sitzt eine junge Asiatin, sie macht eine Blase mit dem Kaugummi. Als sie mich ansieht, ziehe ich kurz eine Grimasse. Keine Reaktion. Dann rücke ich ein Stück näher und halte ihr die Hand hin. “Hi, ich bin Mark aus Deutschland.”

Halbherzig erwidert sie die Geste. Ihr Mund sagt: “Schön dich kennenzulernen” und der gelangweilte Blick nach rechts sagt: “Verpiss dich!“

Der Zug geht vor der nächsten Station in die Eisen. Es scheint, als gäbe es im Führerhaus nur zwei Knöpfe. Einen, mit der Aufschrift „Vollgas“ und einen Zweiten, auf dem „Vollbremsung“ steht.

Die Türen öffnen sich mit einem hydraulischen Zischen und ein dünner Schwarzer steigt ein, ich schätze ihn auf Mitte zwanzig. Seine Jeans steht vor Dreck, doch die neongelben Sneaker sind brandneu. Er geht an mir vorbei und grüßt einen dicken Weißen mit Dreadlocks. Anschließend setzt er sich auf einen der freien Plätze vor mir.

„Hab mich heute mit Chubby getroffen, vor Macy's“, sagt der Dicke ein paar Plätze neben mir.

„Vor Macy's?“, fragt der Schwarze.

„Macy's ist cool!“, versuche ich mich einzubringen.

Die beiden sehen sich eine Weile ratlos an. „Macy's ist cool?“

„Ja, Macy's ist cool … , habe ich gehört.“

Der Schwarze kratzt seinen Dreitagebart. „Siehst du nicht, dass ich mich unterhalte? Wer bist du überhaupt?“

„Ich bin Mark.“ Zur Begrüßung halte ich ihm die Hand hin, doch werde ignoriert.

„Bist du ein Tourist?“ Er mustert meine Reisetasche. „Wo fährst du hin?“

„Brooklyn.“

„Was willst du da?“

Kurz überlege ich. „Leben.“

„Du willst in Brooklyn leben?“ Er grinst. „Warum? Was weißt du über Brooklyn?“

„Nur, was ich von der Musik weiß, die ich höre.“

„Welche Künstler kennst du?“

„Ist Biggie nicht von dort?“

Er lächelt und reicht mir die Hand. „Verdammt! Das ist genau die richtige Antwort! Das ist immer das Erste, was kommt, wenn man fragt: Wen kennst du aus Brooklyn? - The Notorious B.I.G.! Wo kommst du her?“

„Deutschland.“

Seine Augen taxieren mich. „Wie ist es so in Deutschland? Kann man da Geld machen?“

„Wie meinst du das?“

„Ganz einfache Frage: Kann man da Geld machen?“

„… Keine Ahnung.“

„Sag schon! Bring mir was über Deutschland bei! Du sagst, du weißt, wie es in Brooklyn ist. Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist. Kann man da Geld machen, in Deutschland?“

Ich weiche seinem Blick aus. „Ich weiß nicht.“

„Was weißt du nicht?“

„Keine Ahnung.“

„Keine Ahnung, keine Ahnung … Was heißt das?“

Ich schweige. Er sieht mir fest in die Augen, dann bricht er in Gelächter aus. „Ich verarsche dich nur! Du bist viel zu sensibel …“

„Also ist alles gut?“

„Klar, Mann. Alles gut!“ Er stützt die Ellenbogen auf die Knie und deutet an, ich soll näherkommen. “Jetzt zieh deine Schuhe aus!“

„Was?“

Sein Blick ist todernst. „Hast mich schon verstanden! Zieh deine Schuhe aus!“

„Warum?“

„Du denkst, du weißt über Brooklyn Bescheid? Du weißt einen Scheiss! Brooklyn ist mein Haus. Wenn du in mein Haus kommst, ziehst du vorher die Schuhe aus!

Fuck!

Langsam beuge ich mich vor und öffne die Schnürsenkel. Anschließend ziehe ich die Schuhe aus und stelle sie neben meine Füße. Erst jetzt bemerke ich, dass der Weiße mich mit seinem Handy filmt. Der Schwarze steht auf und zeigt mit dem Finger auf mich. „Du ziehst wirklich deine Schuhe aus? Du bist so ne Pussy! Was machst du, wenn ich sage, du sollst mir einen blasen? Gehst du dann auf die Knie und fängst an, mir an der Hose rumzufummeln?“

„… Das ist meine Station!“, sage ich und hechte zur Tür. Es gelingt mir hindurch zu springen, bevor sie sich schließt. Hinter der Scheibe schwenkt der Schwarze belustigt meine Reisetasche und der Weiße kickt meine Turnschuhe durch die Gegend. Ich winke ihnen zum Abschied hinterher.

Erst jetzt begreife ich, was passiert ist und mein Herz donnert durch den Brustkorb wie eine wild gewordene Flipperkugel. Ich atme ein. Ich atme aus. Dann gehe ich in Richtung Ausgang.

 

Im hinteren Teil der Station sitzt ein Mann mit einem eingefrorenen Gesicht auf dem Boden. Er lehnt an der Wand und trägt einen dicken Wollpullover. Vor ihm steht ein Schild. Es erklärt, er sei Opfer einer Säure-Attacke geworden, die sein Gesicht verätzte. Nun sei er mittellos und für jede Spende dankbar. Wortlos setze ich mich neben ihn, kurz darauf sehen wir uns an. Ich sehe keinen Kummer, ich sehe keine Freude, nur ein gefühlloses, undefinierbares Etwas. Für einen kurzen Moment spiegelt sich die Stadt in seinen kleinen schwarzen Augen. Er fragt: “Was ist mit deinen Schuhen passiert?”

Ich frage: “Was ist mit deinem Gesicht passiert?”

Dann greift er in seinen Rucksack und bietet mir eine kleine blaue Pfeife an. Dankbar klopfe ich ihm auf die Schulter und lehne ab.

Was habe ich mir bloß gedacht? Einfach in diese Stadt zu kommen und zu hoffen, dass sich alles von selbst ergibt und ich meinen Traum leben kann. Ich bin heute angekommen und werde schon morgen den Rückflug buchen. Hier bin ich ein Nichts.

 

Eine fremde Hand klopft auf meine Schulter und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich versuche auf die Beine zu kommen, es gelingt. Vor mir steht ein junger Mann, der einen halben Kopf kleiner ist als ich. Seine halblangen Haare sind mit Gel nach oben fixiert und sehen aus, wie etwas, in das Schwalben ein Nest bauen könnten. „Du hast keine Schuhe“, sagt er.

Ich grinse ihn an. „Ist das so offensichtlich?“

„Welche Schuhgröße?“

„43, glaube ich.“

Er dreht sich zu einer jungen Schwarzen, die gerade einen Bollerwagen um die Ecke zieht. „Lizzy!“, ruft er sie. „Haben wir noch etwas in Größe 43 – Glaube ich?“

Lizzy beginnt einen der Müllsäcke zu durchwühlen, die auf dem Bollerwagen liegen, während der junge Mann mir freundlich die Hand entgegenstreckt: „Hi, ich heiße Ben.“

„Ich bin Mark, aus Deutschland.“

„Oh, Deutschland!“, sagt er und zeigt mir den Siegesdaumen. „Gute Tag, gute Abe, gute ...“

„Nacht!“, ergänze ich sein gebrochenes Deutsch und wir lachen. Indes kommt Lizzy mit ein paar alten Boots angelaufen. Ich lege die Boots auf den Boden und stelle meine Füße hinein. Sie passen wie angegossen. „Wessen Schuhe sind das?“

„Deine“, sagt Lizzy und lächelt.

„Ich kann doch nicht ...“ beginne ich einen Satz, von dem ich nicht weiß, wie er enden soll. Dann steige ich wieder aus den Boots.

„Es ist okay!“, sagt Ben. „Wir verteilen Spenden an die Obdachlosen.“

„Ich bin nicht obdachlos ...“

Lizzy tänzelt, so als höre sie leise ihren Lieblingssong. „Aber du brauchst Schuhe, oder?“

Ich beuge mich vor und binde die Schuhe zu, während Ben etwas zu dem Mann mit dem eingefrorenen Gesicht sagt. Anschließend verabschieden wir uns von ihm. Ben und ich tragen den Bollerwagen die Treppen hoch. „Ihr lauft also einfach durch die Gegend und verteilt Spenden an die Obdachlosen?“

Ben und Lizzy schmunzeln. „Ja.“

„Kann ich euch vielleicht helfen?“

„Awww“, sagt Lizzy und legt ihren Kopf an meine Schulter. Als wir oben angekommen sind, stehen wir auf einem großen Platz und ich blicke auf einen riesigen Bildschirm, der an einem Hochhaus befestigt ist. Er zeigt einen Cowboy, der gerade eine Coke öffnet. „Wo sind wir?“, frage ich und blicke in den Himmel, der nicht weit von den Dächern der Wolkenkratzer entfernt sein kann.

„New York, Baby! Times Square ...“ Lizzy wirkt leicht besorgt. „Bist du okay?“

„Ja … Ich … Ich bin zum ersten Mal hier.“

„In New York?“

„Ja.“

„Dann habe ich den perfekten Song für dich!“ Sie holt einen kleinen Lautsprecher aus ihrem Rucksack und startet mit ihrem Handy ein Lied. Der überraschend starke Bass, trägt eine Melodie in die Nacht, die sich nach Freiheit anfühlt.

Es muss gerade geregnet haben, doch nun weht eine warme Sommerbrise durch die Straßenschluchten. Meine Augen haben sich längst an die Lichter gewöhnt und Lizzy hält den Lautsprecher mit beiden Händen in den Himmel. Sie hüpft und tanzt ganz bezaubernd durch die Gegend. Als sie bemerkt, dass ich sie anstarre, fasst sie mir an die Haare und wirbelt sie durcheinander. „Ich mag deine Frisur“, sagt sie. „Du siehst aus wie der König der Löwen!“

Ich sehe zu Ben. „Macht sie das bei jedem?"

„Du bist heute der Erste“, sagt er und zwinkert mir zu.

Nach einer Weile gelangen wir an eine große Kreuzung, die Straßen sind breit und führen scheinbar endlos in jede Himmelsrichtung.

„Wohin willst du gehen?“, fragt Lizzy.

„Nirgendwo hin ...“, sage ich und grinse. „Ich bleibe hier."


Kostenlose Geschichten, Titel: Welcome to New York, Autor: Dustin Patten